Interview mit Ingo Schulze anlässlich seiner Auszeichnung mit dem Manhae-Literatur-Preis
DeLiDi: Sie haben hier in Korea am 11. August 2013 einen der drei Manhae-Preise in der Kategorie Literatur entgegen genommen. Dazu gratulieren wir Ihnen von ganzem Herzen. Was bedeutet der Manhae-Literatur-Preis für Sie als Schriftsteller?
Ingo Schulze: Ich freue mich sehr darüber, gerade weil mir diese frohe Botschaft lange so unwirklich erschien. Jede und jeder braucht Anerkennung, dann arbeitet es sich leichter weiter. Der Preis hilft ganz praktisch im Alltagsleben. In gewisser Weise bedeutet er für mich auch geschenkte Zeit. Bei diesem Preis profitiere ich persönlich von der Wertschätzung der deutschen Literatur in Korea im allgemeinen. Einen Preis im Ausland zu bekommen heißt aber auch immer: ich verdanke ihn nicht nur denjenigen, die mich ausgewählt haben, sondern ich verdanke ihn besonders meiner Übersetzerin Seoni Noh, die vier Bücher von mir ins Koreanische übertragen hat, darunter auch „Neue Leben“. Für mich grenzt es schon immer an ein Wunder, wenn man in einer anderen Sprache „verstanden“ wird.
DeLiDi: In Ihrer Dankesrede deuteten Sie an, dass Sie sich im Vorfeld der Preisverleihung mit der Person Manhaes beschäftigt haben. Was haben Sie aus Ihrer Beschäftigung mit der Person Manhaes für Sie persönlich, das heißt auch für Sie als Schriftsteller, für Sie als politischer Mensch gewonnen?
Ingo Schulze: Es gibt ja leider nur sehr wenige Gedichte von ihm auf Deutsch. Die wenigen aber, die ich kenne, finde ich sehr gut. Ich würde gern mehr von ihm lesen, auch wenn es nichts schadet, diese wenigen immer wieder zu lesen. Da ist für die deutsche Sprache wirklich noch ein internationaler Klassiker zu entdecken. Was er in den Zwanziger Jahren schreibt, braucht keinen Vergleich zu scheuen. Dabei entgehen mir und wahrscheinlich den meisten deutschsprachigen Lesern wichtige Ebenen, die für diejenigen, die mit der Welt des Buddhismus vertraut sind, beim Lesen gegenwärtig sind. Das Gute aber ist, man muß nichts davon wissen. Es funktioniert trotzdem. Hinzu kommt seine Bedeutung für die koreanische Literatur wie auch seine Vielseitigkeit. Seine Schriften zum Buddhismus, sein soziales Engagement und nicht zuletzt sein gewaltloser Widerstand gegen die japanische Besatzung machen alle Preisträger zu Kolleginnen und Kollegen von ihm, nicht nur die Schriftsteller.
DeLiDi: Was Koreanerinnen und Koreaner an Ihren Texten besonders interessiert, sind die Themen des ‚geteilten Deutschlands‘ und der ‚Wiedervereinigung‘. Was lässt sich Ihrer Meinung nach die Situation Koreas mit der Situation, wie wir sie in Deutschland hatten und haben, vergleichen? Wo sehen Sie Unterschiede?
Ingo Schulze: Ich fände es vermessen, wollte ich etwas zu dem Verhältnis zwischen Süd- und Nordkorea sagen. Meiner Ansicht nach gibt es da im Konkreten kaum Berührungspunkte zu den vergangenen deutschen Verhältnissen. In Korea ist die Trennung viel härter, sie ist eben auch aus einem Bürgerkrieg hervorgegangen. Man weiß letztlich sehr viel weniger übereinander, als es die Deutschen wussten, die ja doch auch den persönlichen Austausch in einem gewissen Umfang hatten. Dabei könnte es durchaus sein, dass sich die Lage im Norden ganz schnell ändert und eine Situation wie am Ende der DDR entsteht. Im Frühjahr 1989 hat ja auch kaum jemand an ein ungeteiltes Deutschland gedacht, ich zu allerletzt. Sollte so eine Situation eintreten, dann kann es nur Hilfe geben, eine Hilfe, die nicht an Bedingungen geknüpft ist, bis auf jene, dass diese Hilfe ankommt. Dann sollte man zuhören und versuchen, Zeit zu gewinnen. Ich denke aber auch, dass politische Tabus in der südkoreanischen Gesellschaft schon jetzt aufgehoben werden können, ja unbedingt sollten. Es ist offenbar immer noch verboten, die nördlichen Radio- bzw. Fernsehprogramme zu sehen, was wohl auch technisch nicht möglich ist. Aber auch in der eigenen Geschichte gibt es vieles, über das nicht gesprochen wird. Dafür die angemessenen Worte zu finden, wäre wohl die beste Vorbereitung auf eine Vereinigung, die nicht in einem Beitritt stecken bleibt.
DeLiDi: Hat Ihre Beschäftigung mit der koreanischen Geschichte Ihren Blick auf die deutsch-deutsche Geschichte verändert?
Ingo Schulze: So schlimm es im Einzelfall immer gewesen ist, verglichen mit Korea hatten wir noch eine Art Luxus-Variante der Trennung. Die Familien, die vor sechzig Jahren in Korea auseinandergerissen worden sind, hatten ja nie wieder die Chance, einander zu schreiben, geschweige denn einander zu hören oder zu sehen. Wahrscheinlich war es nicht mal zu Stalins Zeiten so schlimm in der DDR, wie es jetzt noch in Nordkorea ist.
DeLiDi: Was hat Sie an Ihrem Aufenthalt in Korea am meisten beeindruckt?
Ingo Schulze: Ich genieße die Freundlichkeit der Menschen und ihr Interesse. Das Essen ist wesentlich gesünder als bei uns und ich mag es, wie man sich um seinen Tischnachbarn kümmert. Und jeder Koreaner scheint sich nach dem Essen sofort die Zähne zu putzen. Eine öffentliche Toilette kann man überall in der Stadt ohne Bedenken benutzen. Mir war auch lange Zeit nicht bewußt, was für eine enorm reiche und alte Kultur dieses Land hat. Wenn man ins Nationalmuseum geht – was man dort zu sehen bekommt, ist wirklich großartig. Blickt man heute über Seoul, über diese 22 Millionen Stadt, ist das ein Gefühl, als seien alle deutschen Großstädte hier an einem Ort nach 1960 gebaut worden. Es ist schon enorm, was aus diesem armen kaputten Land in den letzten Jahrzehnten entstanden ist. Wofür aber Europa letztlich zwei Jahrhunderte hatte, passiert hier in dreißig, vierzig Jahren. Die Veränderungen müssen für den Einzelnen wie für die Gesellschaft radikal sein. Es hat diese Gesellschaft sehr schnell polarisiert in diejenigen, die viel haben und diejenigen, die kaum etwas ihr eigen nennen können.
DeLiDi: Und wir sind natürlich neugierig: Werden Sie etwas, das Ihnen bei Ihrem Aufenthalt in Korea begegnet ist, literarisch verarbeiten?
Ingo Schulze: Da habe ich noch keine Antwort, so etwas braucht ja immer Zeit. Indirekt fließt immer etwas ein, weil jede Reise den eigenen Blick verändert. Es ist ja immer der Moment der Rückkehr, wenn man plötzlich die Dinge doch etwas verändert sieht. Aber womöglich ergibt sich noch darüber hinaus etwas.
DeLiDi: Herr Schulze, wir danken Ihnen ganz herzlich für dieses offene Gespräch.
Die Fragen für DeLiDi stellte Frau Prof. Dr. Sabine Obermaier.